„Es ist autoritär, zu glauben, dass Wissenschaft über politische Fragen entscheiden könne“

Wissenschaft trifft auf Politik – doch unter welcher Prämisse?
„Es ist autoritär, zu glauben, dass Wissenschaft über politische Fragen entscheiden könne“
Autor: Philipp Nagels 06.08.2024

Klimawandel, Artensterben, Pandemien – sollte die Politik mehr auf die Wissenschaft hören? Nein, sagt der Wissen­schafts­theoretiker Peter Strohschneider, denn das könne die liberale Demokratie gefährden. Was er statt­dessen vorschlägt, erklärt er im Interview mit AufRuhr.

AufRuhr: Herr Strohschneider, Sie beschäftigen sich in Ihrem aktuellen Buch mit dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft. Was verbirgt sich hinter Ihrer „Kritik des autoritären Szientismus“?

Peter Strohschneider: Unter Szientismus verstehe ich eine Haltung, die davon ausgeht, dass sich sämtliche Fragen wissenschaftlich abschließend beantworten lassen. Sie ist in unseren Wissenschafts­gesellschaften stark verbreitet und geht mit der Annahme einher, dass politische Fragen auch in der Demokratie durch wissenschaftliches Wissen entschieden werden könnten. Dem liegt der Fehl­schluss zugrunde, dass Wissenschaft unzweideutige Fakten produziere und sich aus diesen Fakten genauso unzweideutig ergäbe, was politisch zu tun sei.

Sie kritisieren also eine Art Wissen­schafts­gläubigkeit in den politischen Debatten. Was macht sie autoritär?

Die Vorstellung, dass Wissenschaft Wahrheit nicht suche, sondern bereits besitze, und dass durch diese Wahrheit politische Fragen entschieden werden können. Das ignoriert die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse, unter denen politisch gehandelt und allgemein­verbindliche Entscheidungen getroffen werden müssen. Ein Beispiel: Aus dem Wissen der Kernphysik und der Klima­forschung etwa folgt keine Antwort auf die Frage, ob Kern­kraft­werke ausgebaut oder abgebaut werden sollen, um mit der Klimakrise umzugehen.

Zudem kann die Wissenschaft irren …

Ja, sie geht von fortwährendem Erkenntnis­fortschritt aus. Neues Wissen kommt dazu, bisheriges Wissen wird verbessert. Man kann aber nicht grundsätzlich annehmen, dass das Wissen der Wissenschaften gewiss sei. In modernen, liberalen Demokratien ist die Legitimität von politischen Entscheidungen vom Wahr­heits­besitz entkoppelt. Eine Entscheidung ist zunächst legitim, wenn sie von der Mehrheit getroffen wird, nicht, weil sie einer vorpolitischen Wahrheit folgt. Wissenschaftliche Information ist eine unverzichtbare Voraussetzung vernünftiger politischer Entscheidungen – aber sie allein reicht nicht aus.

Peter Strohschneider

Peter Strohschneider ist emeritierter Professor für Germanistische Mediävistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Autor mehrerer Bücher, die sich auch mit der Rolle der Wissenschaft aus­einander­setzen. Er war unter anderem Vorsitzender des Wissenschafts­rats (2006 bis 2011) sowie Präsident der Deutschen Forschungs­gemein­schaft (2013 bis 2019) und wurde 2020 zum Vorsitzenden der Zukunfts­kommission Landwirtschaft berufen. Seit 2014 ist er Mitglied der Deutschen Akademie der Natur­forscher Leopoldina.

Wie kann das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik besser funktionieren?

Ich finde nicht, dass es in unserer Gesellschaft grundsätzlich schlecht funktioniert. Meine Kritik bezieht sich auf eine Auffassung, wie sie zum Beispiel im Motto „Follow the Science“ der Jugend­klima­bewegung zum Ausdruck kommt. Ich nehme darin eine Hoffnung auf Entpolitisierung von Politik wahr, nach der Logik: Meine eigene Position ist wissen­schaftlich begründet, es gibt also nichts mehr zu diskutieren. Der Grundsatz der Demokratie ist aber die Freiheit der Meinung, nicht nur die Freiheit von wissenschaftlich gerecht­fertigten Meinungen.

Wie sollten wissenschaftliche Erkenntnisse denn in die Politik einfließen?

Es gibt viele Fälle, wo dies praktisch gut funktioniert. Ein Beispiel für das, was ich instrumentelle Expertise nennen würde: In der Zement­produktion entstehen Stäube, und Sie möchten wissen, was die Belastungs­grenz­werte für die Menschen sind, die dort arbeiten. Für Fragen dieser Art gibt es bei der DFG (Deutsche Forschungs­gemeinschaft, Anm. d. Red.) eine Kommission, die auf Basis der neuesten Forschungs­ergebnisse derartige Grenz­werte definiert. Die Empfehlungen werden jedes Jahr an das Bundes­arbeits­ministerium über­mittelt und meist ohne Weiteres in Verordnungen übersetzt. Es gibt einen riesigen Bereich derartiger wissenschaftlicher Politikberatung, der unproblematisch funktioniert und für unsere Zivilisation von erheblicher Bedeutung ist.

Warum funktioniert dieser Transfer von Wissen nicht auch bei weniger spezifischen Problem­stellungen?

Die instrumentelle Expertise beruht unter anderem auf der Voraussetzung, dass man auf eine Politisierung der Forschungs­ergebnisse verzichtet. Das ist immer möglich, aber niemals zu garantieren. In der Politik gibt es keine Stoppregel für Politisierung. Die Risiken des Glyphosat­einsatzes sind zum Beispiel wissenschaftlich umstritten und sie werden politisiert. Da funktioniert das Schema der instrumentellen Expertise nicht mehr – man muss und kann nur noch politisch entscheiden.

Dann noch einmal die Frage: Wie kann die Wissenschaft auch bei den großen Problemen unserer Zeit zu politischen Entscheidungen beitragen?

Ein Modell sind Wissenschaftsakademien, die Wissen aggregieren und autorisieren. Man denke an die britische Royal Society oder die National Academy of Sciences in den USA. In Deutschland haben wir die Leopoldina, die 2008 zur Nationalen Akademie der Wissenschaften ernannt worden ist und deren Mitglied ich bin. Solche Akademien haben unter anderem die Aufgabe, den Stand des wissenschaftlichen Wissens zusammen­zu­fassen und dafür soziale Geltung zu produzieren. Dieses Wissen determiniert noch keine politischen Entscheidungen, aber es filtert aus der unabsehbaren Fülle möglicher Handlungs­optionen die vernünftigen heraus.

Sind Sie zuversichtlich, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit meistern werden?

Ich bin ja Optimist. Und pessimistische Szenarien unterstellen, dass die gegen­wärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen in Richtung und Tempo einfach linear weiter­gehen. Das ist nicht wahrscheinlich. Auch Gesellschaften können sich exponentiell verändern. Je später sich klima­freundliche Lebens- und Konsum­stile durch­setzen, desto teurer und schmerz­hafter wird es. Immerhin: Geschehen wird es.


Edition Mercator

Die Edition Mercator ist eine von der Stiftung Mercator geförderte Sach­buch­reihe, die im C.H. Beck Verlag erscheint. In pointierter Form eröffnen renommierte Autor*innen und Expert*innen neue Perspektiven auf gesellschaftliche relevante Themen.

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