Zwischen Vorbildern und Vorurteilen – auf Stadttour durch Duisburg-Hochfeld

Das Ruhrgebiet begleitet eine lange Einwanderungsgeschichte – die sich aber in den letzten Jahren nochmals stark verändert hat.
Zwischen Vorbildern und Vorurteilen – auf Stadttour durch Duisburg-Hochfeld
Autorin: Bettina Brakelmann Fotos: Lukas Schulze 09.07.2024

Seit rund 200 Jahren prägt Einwanderung das Ruhrgebiet. Mit der EU-Ost­erweiterung hat sich die Migrations­dynamik in den letzten Jahren intensiviert. Ein Forschungs­projekt der Ruhr-Universität Bochum hat nun die komplexen Wanderungs­bewegungen zwischen Süd­ost­europa und sechs ausgewählten Kommunen des Ruhrgebiets unter die Lupe genommen. Anfang Juni wurden die Ergebnisse in Duisburg-Hochfeld präsentiert. Teilnehmende der Abschluss­veranstaltung konnten sich organisierten Führungen durch den Stadtteil anschließen.

Duisburg-Hochfeld: ein Stadtteil, in dem Menschen aus Südosteuropa die größte Einwanderungs­gruppe stellen. Insgesamt leben in der Stadt rund 25.000 Bulgar*innen und Rumän*innen, ihre Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die meisten von ihnen, 83 Prozent, kommen aus städtischen Gebieten ihrer Herkunfts­länder. An der Wanheimer Straße, der Haupt­verkehrs­ader des Viertels, überwiegen Geschäfte mit rumänischen, bulgarischen oder türkischen Namen. In den Neben­straßen reihen sich Mietshäuser aus verschiedenen Jahr­zehnten aneinander, die Fassaden sind oftmals herunter­gekommen und mit Graffitis beschmiert. Vor einem Haus, dessen Fenster im Erd­geschoss mit Brettern vernagelt sind, erklärt die Stadt- und Integrations­forscherin Lena Wiese bei einer Führung die Hinter­gründe. „Wir stehen hier vor einer sogenannten Problem­immobilie, die vor einer Woche von der Stadt Duisburg geräumt und versiegelt wurde.“ Wiese ist Vorsitzende des Vereins für die solidarische Gesellschaft der Vielen, der zwei Straßen weiter das Zentrum für Kultur betreibt. Die Rolle der Stadt Duisburg als zuständige Kommune sieht Lena Wiese kritisch. Sie zeigt auf die versiegelte Haustür. „Wir sind hinsichtlich dieser Zwangs­räumung im Austausch mit verschiedenen Abteilungen der Verwaltung, darunter das kommunale Integrations­zentrum, das Schulamt, das Sozial­amt, das Jobcenter. Da gibt es große Lücken in der Versorgung.“

Lena Wiese ist Stadt- und Integrationsforscherin und erklärt die derzeitigen Herausforderungen in der Stadt Duisburg.
Lena Wiese ist Stadt- und Integrationsforscherin und erklärt die derzeitigen Herausforderungen in der Stadt Duisburg. © Lukas Schulze
Zhivko Slavev kam als 14-Jähriger mit seinen Eltern aus Bulgarien nach Duisburg – heute erzählt er bei Führungen seine Migrationsgeschichte.
Zhivko Slavev kam als 14-Jähriger mit seinen Eltern aus Bulgarien nach Duisburg – heute erzählt er bei Führungen seine Migrationsgeschichte. © Lukas Schulze
Das Forschungsteam der Studie „Migrationsdynamiken zwischen Rumänien/Bulgarien und dem Ruhrgebiet“ nahm gemeinsam am Stadtrundgang teil.
Das Forschungsteam der Studie „Migrationsdynamiken zwischen Rumänien/Bulgarien und dem Ruhrgebiet“ nahm gemeinsam am Stadtrundgang teil. © Lukas Schulze

Unter den Teilnehmer*innen der Stadtführung ist Ludger Pries. Er ist Leiter des Forschungs­projektes „Migrations­dynamiken zwischen Rumänien/Bulgarien und dem Ruhrgebiet“ der Universität Bochum, dessen Projekt auf der Veranstaltung präsentiert wurde. „Mit dem Projekt konnten wir zeigen, dass nicht alle aus Rumänien und Bulgarien Migrierten hierbleiben wollen. Wir fanden typische Wanderungs­verläufe: Einige Migrierende wollen definitiv bleiben, einige wollen unbedingt zurück­kehren. Einige pendeln für eine bestimmte Zeit, meist für saisonale Erntearbeit, einige leben transnational als Europäer*innen,“ erklärt er. Neben ihm läuft Christian Schramm, der Projektkoordinator. Er sieht viel Optimierungs­bedarf bei den Kommunen: „Migration beeinflusst unser Zusammen­leben. Um mit den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen lang­fristig angemessen umgehen zu können, brauchen wir gut aufgestellte kommunale Services für Migration, Ankommen, Teilhabe und Integration.“

Bei einer Stadtführung zeigen Einwander*innen aus Rumänien und Bulgarien ihre Stadt Duisburg.
Bei einer Stadtführung zeigen Einwander*innen aus Rumänien und Bulgarien ihre Stadt Duisburg. © Lukas Schulze
Viele interessierte Teilnehmer*innen schlossen sich den Rundgängen durch Duisburg an.
Viele interessierte Teilnehmer*innen schlossen sich den Rundgängen durch Duisburg an. © Lukas Schulze

Ein offener Raum für alle

Ein paar Straßen weiter ist die Führung am Zentrum für Kultur angekommen. Die frühere, für das Ruhrgebiet sehr typische Eckkneipe erstrahlt in kräftigem Grün, an den Wänden hängen Fotos und Plakate. Hier treffen sich Kinder und Jugendliche aus dem Viertel, machen ihre Hausaufgaben, spielen miteinander und können sich kreativ ausleben. Ein paar Jungen im Teenager­alter bereiten zur Feier des Tages Sandwiches zu, andere laufen mit kleinen Handkameras durch den Raum und filmen alles und jede*n. „Uns geht es darum, mehr als nur Beratung in Problem­lagen zu bieten. Die Jugendlichen sollen zu uns kommen, um einfach Freude zu haben“, so Lena Wiese. „Unser Ziel ist nicht die Integration in die deutsche Mehrheits­gesellschaft, sondern eine Gesellschaft der Vielen. Wir möchten Raum für verschiedene Lebens­realitäten schaffen.“

Vernagelte Fenster und versiegelte Türen – dieses Haus nahe der Wanheimer Straße wurde von der Stadt Duisburg zwangsgeräumt.
Vernagelte Fenster und versiegelte Türen – dieses Haus nahe der Wanheimer Straße wurde von der Stadt Duisburg zwangsgeräumt. © Lukas Schulze

Dass diese existieren, ist auch eines der wichtigsten Ergebnisse des Forschungs­projektes. Christian Schramm führt aus: „Die Vielfalt der Migrations- und Teil­habe­muster hat uns selbst erstaunt. 38 Prozent der Befragten haben eine einzige Migrations­erfahrung, aber etwas mehr als ein Drittel zwei bis drei, ein knappes Drittel zwischen vier und 14 Migrations­erfahrungen. Klar, dass die Kommunen hinsichtlich der Bedarfe der Migrierenden stärker differenzieren müssten.“

Endlich dazugehören

Es geht weiter zu einer anderen Stadt­führung. Zhivko Slavev kam 2007 als 14-Jähriger mit seinen Eltern und seinem Bruder aus Bulgarien nach Duisburg-Hochfeld. Auch er leitet an diesem Tag eine Gruppe durchs Viertel. „Meine Eltern wollten, dass wir eine gute Bildung bekommen“, erzählt er. Sein Vater arbeitete anfangs als Lager­arbeiter, seine Mutter als Reinigungs­kraft. Heute fühlt sich Zhivko Slavev zugehörig, doch der Weg dahin war nicht leicht. Oft fühlte er sich ausgegrenzt, verstand die Sprache nicht. Heute arbeitet er für die Duisburger Werkkiste, eine katholische Einrichtung mit Schwerpunkt auf berufs­vorbereitender Jugend­hilfe. Dort berät er Familien und Jugendliche, die aktuell in der Situation sind, in der er einst war. Er hilft bei Kommunikations­schwierigkeiten mit der Schule oder der Kita, bei Antrag­stellungen und baut Ängste gegen­über Behörden ab. „Ich kann mich gut in die Menschen hinein­versetzen und auf Augenhöhe mit ihnen sprechen.“

Seiner Gruppe hat er während der Führung die Stelle gezeigt, an der er zum ersten Mal Duisburger Boden betrat, und den Parkplatz, auf dem er sich als Jugendlicher täglich mit seinen Freund*innen traf. Zhivko Slavev freut sich über das rege Interesse der Teilnehmenden, die er auch durch die Wanheimer Straße führte: „Wir nehmen mit den bulgarischen und rumänischen Geschäften das Risiko der Selbst­ständigkeit auf uns, um den Lebens­unterhalt für uns und die Familie zu verdienen. Das ist doch eigentlich vorbildlich!“ Über Vorurteile kann er nur den Kopf schütteln. In Slavevs Umfeld haben mittler­weile viele Zugewanderte ihre Bildungs­abschlüsse gemacht. „Viele meiner Bekannten haben Abitur und studieren jetzt“, erzählt er stolz.


Zuwanderung aus Südost­europa – Teilhabe & Zusammen­halt auf kommunaler Ebene ermöglichen

Das Forschungsprojekt der Ruhr-Universität Bochum erfasst die komplexen Wanderungs­bewegungen zwischen Bulgarien, Rumänien und sechs ausgewählten Kommunen des Ruhrgebiets. Es nimmt Teil­habe­prozesse sowie Mechanismen der Exklusion und Stigmatisierung in den Blick. Untersucht werden auch die gesellschaftlichen Rahmen­bedingungen, die Teil­habe­chancen fördern oder beschränken.

eu2migraruhr.eu