Gerechtigkeit für den Globalen Süden: sechs Ideen von Andrea Ordóñez

Gerechtigkeit für den Globalen Süden: sechs Ideen von Andrea Ordóñez
Autorin: Felix Jung Ilustrationen: Jochen Schievink 10.09.2024

Andrea Ordóñez, Forschungs­beauftragte des Netzwerkes Southern Voice, gehört zu den einfluss­reichsten Stimmen des Globalen Südens. In ihrer Arbeit engagiert sie sich für die gerechte Verteilung von Macht und Ressourcen zwischen Globalem Süden und Norden. Für AufRuhr hat sie sechs Perspektiv­wechsel formuliert, die für eine gerechtere Zukunft notwendig sind.

Der Human Development Index zeigt: Westliche Industrie­staaten sind heute weiter entwickelt als Länder des Globalen Südens, was Lebens­erwartung, Bildung und Lebens­standard angeht. Durch Kredite und Entwicklungs­hilfen sollen diese Nationen aufholen, doch die Kredit­konditionen nützen vorrangig den Geldgebern – dem Globalen Norden. Das Problem der Ungleichheit ist also tief im System verankert. Andrea Ordóñez formuliert deshalb sechs Forderungen, um die Länder des Globalen Südens zu stärken, zu vereinen und unabhängiger zu machen.

1. Schulden und internationale Finanz­strukturen hinter­fragen:

„Derzeit sprechen offizielle Statistiken davon, dass etwa 130 Länder des Globalen Südens in Schuldennot sind. Das sind – je nachdem, welche Länder man zum Globalen Süden zählt – über 90 Prozent. Kann das wirklich nur an schlechter Wirtschafts­führung liegen? Nein. Die im inter­nationalen Finanz­system geltenden Regeln und Strukturen führen dazu, dass der Globale Süden über­proportional hohe Schulden aufnimmt. Länder aus diesen Regionen werden beispiels­weise bei der Kredit­vergabe stets als hohes Risiko bewertet und müssen entsprechend hohe Zinsen zahlen – die Schulden sind also sehr teuer für die Länder des Globalen Südens. Diese Methodik muss sich ändern. Studien zeigen außerdem, dass der Globale Süden zwar etwa 30 Prozent der globalen Gesamt­verschuldung trägt. 70 Prozent der weltweiten Staats­schulden tragen jedoch die westlichen Länder.“

Andrea Ordonez
© Charli Charles Kasumba

Andrea Ordóñez Llanos ist Forschungs­beauftragte/Mit­gründerin von Southern Voice mit Sitz in Quito, Ecuador. Ihre Haupt­forschungs­interessen sind Sozial­politik, öffentliche Finanzen, Entwicklungs­finanzierung und inter­nationale Zusammen­arbeit. Ihr Ziel ist es, sicher­zu­stellen, dass neue Stimmen und Ideen aus dem Globalen Süden in allen Regionen der Welt gehört werden.

2. Wie passend ist der Begriff „postkolonial“?

„Natürlich gibt es koloniale Macht­dimensionen. Und es ist wichtig, anzuerkennen, dass sich viele Dinge seit der Kolonial­zeit nicht verändert haben. Doch wie kommen wir voran? Ich denke, die Antwort lautet nicht, auf die Kolonial­zeit zurück­zu­blicken. Ich ziehe es stattdessen vor, über globale Machtfragen und die Handlungs­fähigkeit des Globalen Südens zu sprechen. Darauf müssen wir unsere Aufmerksamkeit richten.“

3. Ideen aus dem Globalen Süden neu bewerten:

„Wir alle neigen dazu, Ideen aus den USA oder Europa für universell und überall anwendbar zu halten. Doch wenn eine Idee aus dem Globalen Süden kommt, wird sie oft nur als lokal relevant angesehen. Das ist eine Einschränkung bei der Suche nach globalen Lösungen – und das müssen wir ändern.“

Um die Länder des Globalen Südens mehr zu stärken, braucht es untereinander stabilere Kooperationen und Partnerschaften.
Um die Länder des Globalen Südens mehr zu stärken, braucht es untereinander stabilere Kooperationen und Partnerschaften. © Jochen Schievink

4. Dialog auf Augenhöhe zwischen Globalem Süden und Norden:

„Ich sehe noch immer, dass viele Akteur*innen des Globalen Nordens nur miteinander sprechen, wenn es um Lösungen für Ungerechtig­keiten im Globalen Süden geht, statt direkt mit dem Globalen Süden zu reden. Wir brauchen mehr Gespräche, in denen die Prioritäten des Globalen Südens im Mittelpunkt stehen und in denen gefragt wird: Was denken Sie darüber? Was stört euch an dieser Situation? Und was kann getan werden?“

5. Die Handlungs­fähigkeit des Globalen Südens in geopolitischen Beziehungen anerkennen:

„Die Länder des Globalen Südens entscheiden selbst, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Der Globale Süden hat einen eigenen Handlungs­spiel­raum und auch Entscheidungs­gewalt. So ruft die zunehmende Zusammenarbeit des Globalen Südens mit China große Skepsis im Globalen Norden hervor. Doch die politischen Entscheidungs­träger*innen des Globalen Südens wägen hier die Chancen und die Risiken ab. Der chinesische Staat zwingt den Globalen Süden nicht einfach dazu, mit ihm zu kooperieren. Die Zusammen­arbeit ist eine bewusste Entscheidung.“

6. Kooperationen im Globalen Süden stärken:

„Wir müssen anerkennen, dass sich viele Länder des Globalen Südens noch im Aufbau befinden. Sie treten bei vielen globalen Verhandlungen mit dem Globalen Norden nicht geeint auf. Was nötig ist, sind stärkere Kooperationen und Partner­schaften zwischen den Ländern des Globalen Südens. Wir müssen versuchen, einen Platz am Verhandlungs­tisch zu bekommen. Wenn wir uns als verschuldete Länder des Globalen Südens zusammentun, haben wir dort eine echte Verhandlungs­grund­lage.“

Andrea Ordóñez’ Essay „Die Schuld der Gläubiger: Warum der Globale Süden dauerhaft in der Kreide steht“ ist kürzlich im Magazin „Inter­nationale Politik“ erschienen. Sie beleuchtet darin die system­bedingten Probleme der inter­nationalen Finanz­architektur, die hauptsächlich den reichen Gläubigern des Globalen Nordens nützt. Ordóñez beschreibt, wie unfaire Macht­verhältnisse und eine unzureichende Unter­stützung aus dem Globalen Norden die Schulden­krise des Globalen Südens verschärfen. Und welche Reformen notwendig wären, um den Kreis­lauf von Abhängigkeit und Verschuldung zu durchbrechen.


Southern Voice

Southern Voice ist ein Netzwerk von über sechzig Thinktanks aus Afrika, Lateinamerika, der Karibik und Asien. Southern Voice nutzt die Erkenntnisse und die Analysen des Globalen Südens, um faire globale Entwicklungs­debatten zu fördern.
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