Was braucht das Grundgesetz von morgen? Vier Expertinnen geben Antworten

Was braucht das Grundgesetz von morgen? Vier Expertinnen geben Antworten
Autorin: Felix Jung Illustrationen: Dirk Schmidt 23.05.2024

Das deutsche Grundgesetz wird 75 Jahre alt – in einer Zeit, in der die Demokratie mehr denn je auf die Probe gestellt wird. Denn viele Menschen halten die Verfassung nicht mehr für zeitgemäß. Entweder weil sie Modernisierungen fordern oder das demokratische Modell als solches ablehnen.

Wir haben mit vier Expertinnen, die mit der Stiftung Mercator zusammen­­arbeiten, über ihre Wert­schätzung für das Grundgesetz gesprochen. Und darüber, was sich künftig ändern sollte.

Digitale Rechte stärken: Svea Windwehr

© Dirk Schmidt

Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?

Wie viele Menschen in Deutschland verbinde ich das Grund­gesetz stark mit dem ersten Satz von Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Gerade in diesem Jahr, in dem wir befürchten müssen, dass rechts­extreme Akteur*innen gestärkt aus den Wahlen in Deutschland und Europa hervorgehen werden, sind wir alle gefragt, demokratische Werte und Institutionen zu schützen und zu verteidigen.

Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?

Für mich ist das Recht auf Selbst­bestimmung, verankert in Artikel 2 Absatz 1, besonders wichtig. Daraus lässt sich unter anderem das Recht auf informationelle Selbst­bestimmung ableiten, also das Recht, selbst über die Preis­gabe und die Verwendung meiner Daten bestimmen zu können. Das ist eines unserer wichtigsten Werkzeuge, um persönliche Autonomie und Selbst­bestimmung auch in der digitalen Welt zu gewähr­leisten und zu verteidigen.

In welchen Situationen kommen Sie damit in Kontakt?

Wir leben heute in einer Welt, in der Eingriffe in die Privats­phäre oder die Presse- und Meinungs­freiheit nicht nur durch staatliche Akteur*innen drohen, sondern auch durch private Unternehmen. Mächtige Online­platt­formen wie Google, Meta oder TikTok gestalten die digitalen Räume, in denen wir uns bewegen, und haben damit einen massiven Einfluss darauf, ob unsere Grund­rechte im Internet gewahrt oder eingeschränkt werden. Die Frage, wie wir unsere Grund­rechte auch online schützen, beschäftigt mich in meiner Arbeit also jeden Tag.

Svea Windwehr
© Bernhard Leitner

Svea Windwehr leitet das Center for User Rights bei der Gesellschaft für Freiheits­rechte und setzt sich für die Stärkung und die Durch­setzung von Nutzer*innen­rechten ein. Zuvor war sie Teil des Public-Policy-Teams von Google Deutschland und hat dort Themen rund um das Netz­werk­durch­setzungs­gesetz (NetzDG), den Digital Services Act, den Kinder- und Jugend­schutz und die Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI) betreut. Außerdem war sie als Fellow des Mercator Kollegs bei der Electronic Frontier Foundation sowie beim Bundes­ministerium für Arbeit und Soziales tätig, wo sie im Bereich Plattform- und KI-Regulierung arbeitete.

Gibt es Artikel des Grundgesetzes, die Sie für überholungsbedürftig halten?

Ein Artikel des Grundgesetzes, bei dem ein Update längst überfällig ist, ist Absatz 3 von Artikel 3. Er verbietet die Benachteiligung von Menschen aufgrund bestimmter geschützter Merkmale wie Geschlecht, Abstammung oder Glauben. Diese Liste sollte dringend um ein Diskriminierungs­verbot aufgrund von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität erweitert werden.

Recht zugänglich für alle machen: Rojda Tosun

Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?

Mit dem Grundgesetz verbinde ich das Versprechen von Recht und Gerechtigkeit sowie Urvertrauen und einen gesunden Nährboden für die Entwicklung unserer Republik.

Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?

Artikel 1, Absatz 3: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetz­gebung, vollziehende Gewalt und Recht­sprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Demnach ist das Grund­gesetz Grund und Boden für jedes staatliche Handeln. Als Innovations­spezialistin weiß ich, dass die Bundes­republik Deutschland dadurch stets angeregt ist, sich zu verbessern und Systeme effizienter zu gestalten, sodass jedes Versprechen des Grund­gesetzes wahr werden kann.

Welche Bedeutung hat das Grundgesetz für Ihren beruflichen Kontext?

Das Grundgesetz ist mein Auftraggeber. Als Gründerin von PublicLegalDesign ziehe ich daraus meinen Auftrag, das Recht verständlich und zugänglich für jede Person zu gestalten.

Wenn Sie könnten, was würden Sie am Grundgesetz ändern, streichen, modernisieren?

Ich würde gerne einen Artikel beziehungsweise einen Absatz ergänzen, der besagt, dass jede staatliche Institution Recht verständlich und zugänglich zu gestalten hat.

Rojda Tosun
© Konstantin Börner

Rojda Tosun ist Juristin, Visionärin im Bereich des Rechts­designs und leiden­schaftliche Verfechterin für gesellschaftlichen Zusammen­halt und soziale Gerechtig­keit. Inspiriert von der Vision staatlicher Institutionen, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden, gründete sie PublicLegalDesign. Die Plattform zielt darauf ab, rechtliche Innovationen und Transformationen voran­zu­treiben. 2022/23 absolvierte sie das Mercator Kolleg mit der Leitfrage, wie staatliche Institutionen Menschen mehr Zugang zu ihren Rechten verschaffen können. Seitdem berät sie nationale und inter­nationale staatliche Institutionen.

Gerechtigkeit für die Umwelt: Roda Verheyen

© Dirk Schmidt

Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?

Unser Grundgesetz entstand aus den Lehren aus einer der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte und stellt die Würde des Menschen in Artikel 1 deshalb ganz bewusst als absolut geschützten Wert an die vorderste Stelle. Gerade in Zeiten einer sich zuspitzenden Klima­krise und des Erstarkens rechts­extremer und autoritärer Strömungen ist es wichtiger denn je, dass wir alle für diese Werte einstehen und sie verteidigen.

Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?

Natürlich hat für mich als passionierte Umwelt­juristin Artikel 20a einen ganz besonderen Stellen­wert, denn diese Norm verpflichtet den Staat zu effektivem Klima- und Umwelt­schutz. Diese Norm hat das Bundes­verfassungs­gericht leider erst 2021 im Klima­beschluss wirklich genutzt, und ich hoffe, das wiederholt sich.

Welche Bedeutung hat das Grund­gesetz für Ihren beruflichen Kontext?

Nach Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz muss es jeder Person möglich sein, eine Verletzung ihrer Grund­rechte vor einem Gericht geltend zu machen. Diese etwas unscheinbare Regelung schafft erst die Voraus­setzungen, dass wir uns als Bürger*innen gegen staatliches Handeln gerichtlich zur Wehr setzen können. Dieser gerichtliche Zugang ist bei Fragen des Umwelt­schutzes besonders relevant: Die Natur kann in unserem Rechts­system nicht selbst klagen und ist deshalb darauf angewiesen, dass wir ihre Interessen und Rechte einfordern.

Roda Verheyen
© Hi Khan Truong

Roda Verheyen ist Rechts­anwältin und Mitglied des Hamburgischen Verfassungs­gerichtes. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich insbesondere mit Umwelt- und Klima­themen. 2002 gründete sie das inter­nationale Netzwerk „Climate Justice Programme“. Außerdem ist sie Gründungs­mitglied und Vorstand des Vereins Green Legal Impact Germany. Ziel der Organisation ist es, der Umwelt zu ihrem Recht zu verhelfen. Green Legal Impact ist Projekt­partner der Stiftung Mercator.

Wenn Sie könnten, was würden Sie am Grundgesetz ändern, streichen, modernisieren?

Es wäre hilfreich, wenn ins Grundgesetz eine Verpflichtung aufgenommen würde, dass bei staatlichen Maßnahmen und Entscheidungen immer die ökologische Verhältnis­mäßigkeit abgewogen werden muss. Aus meiner Sicht muss schon heute so gehandelt werden, aber eine Klar­stellung etwa in Artikel 20a Grundgesetz wäre hilf­reich.

Demokratie bedeutet Diversität: Sandra Kim

© Dirk Schmidt

Was verbinden Sie mit dem Grundgesetz?

Als Juristin, die in Bonn studiert hat, verbinde ich damit die Bewunderung für eine Verfassung, die mit großer Ernst­haftig­keit aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Als Kind von sogenannten Gast­arbeiter*innen aus Südkorea, die Krieg und japanische Besatzung erlebt haben, außerdem Dank­bar­keit für Frieden, Sicherheit und freie Entfaltung.

Welcher Artikel ist für Sie besonders wichtig und warum?

Artikel 1, 2 und 3 Grundgesetz – Menschen­würde steht für mich in direkter Verbindung mit Teilhabe und damit auch mit Nicht­diskriminierung. Dass wir uns darum bemühen, diesem normativen Anspruch in unserer alltäglichen Arbeit gerecht zu werden, macht uns zu einer guten Justiz.

In welchen Situationen kommen Sie damit in Kontakt?

Wir haben es uns in unserem Projekt zur Rechts­staats­bildung zum Ziel gesetzt, unseren Rechts­staat und vor allem die Rolle der Justiz nahbar und erfahrbar zu machen. In einer Umfrage in einer belebten Fuß­gänger­zone wussten nur sehr wenige eine Antwort auf die Frage, was ihnen unser Rechts­staat bedeutet oder welche Rolle hier die Justiz spielt. Gleich­gültigkeit, Unwissenheit, aber auch Ablehnung aufgrund schlechter Erfahrung haben gezeigt, dass wir in den aktiven Dialog gehen und nicht nur erklären, sondern zuhören müssen.

Sandra Kim
© Daniel Koebe

Sandra Kim ist Leiterin des Referats für Diversitäts­förderung, Anti­diskriminierung und Rechts­staats­bildung sowie Rechts­kunde in der Aus- und Fortbildungs­abteilung im Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie hat außerdem die Fach­aufsicht über das Zentrum für Inter­kulturelle Kompetenz der Justiz Nordrhein-Westfalen (ZIK) inne, das sich unter anderem mit Diversitäts­förderung in der Justiz NRW und Rechts­staats­bildung aus­einander­setzt.

Gibt es Artikel oder Begriffe, die Sie für über­holungs­bedürftig halten?

Auf den Begriff der „Rasse“ würde ich persönlich aus den bekannten Gründen gern verzichten, obwohl ich die Einwände gegen eine Streichung nachvollziehen kann. Es gibt keine Rassen, nur Rassismus. Der ist keine subjektive Befindlichkeit, sondern hartnäckige Realität in unseren Köpfen und Strukturen.