So bringen wir die ÖPNV-Verkehrs­wende voran

S-Bahn in Hamburg
So bringen wir die ÖPNV-Verkehrs­wende voran
Autorin: Anke Kotte 02.07.2024

Auto fahren können – aber nicht müssen: Hierfür braucht es einen flächendeckenden öffentlichen Personen­nah­verkehr (ÖPNV). Doch der lässt in Deutschland noch zu wünschen übrig, meint Agora Verkehrs­wende. Für ihren ÖV-Atlas erhebt der Thinktank wichtige Daten, um die deutsche Verkehrs­wende voranzubringen. Projekt­leiter Philipp Kosok erklärt, welche Maßnahmen es für diese braucht.

Wer im Landkreis Straubing-Bogen, nördlich von München, an eine Haltestelle kommen will, muss gut zu Fuß sein und Zeit mitbringen. Denn die Region ist bei einer Studie des gemein­nützigen Verkehrs­bündnisses „Allianz pro Schiene“ deutschland­weit auf dem letzten Platz gelandet, was die Versorgung mit Bussen und Bahnen anbelangt. Nur 18 Prozent der Menschen leben dort in 600 Meter Entfernung zur nächsten Bus- oder Bahnhalte­stelle mit 14 Fahrten am Tag. Eine entnervte Mutter berichtete dem Bayerischen Rundfunk von ihren Erfahrungen. In ihrer Gegend gebe es „einfach nix“. Ihre Tochter pendle jeden Tag zehn Kilometer zum Zug, mit dem sie dann nach Landshut zu ihrer Schule fährt. Ihr Ehemann müsse das Auto für die 30 Kilometer zur Arbeit nehmen. Eine ÖPNV-Verbindung existiere nicht, mit dem Rad brauche er anderthalb Stunden.

Es sind persönliche Berichte wie diese, die den Nachholbedarf in Sachen ÖPNV-Ausbau verdeutlichen. Doch um die Transformation weiter anzustoßen, sind konkrete Zahlen nötig. Mit dem mittler­weile zum dritten Mal aufgelegten „ÖV-Atlas“ bietet Agora Verkehrswende eine Übersicht über den öffentlichen Verkehr (ÖV) in Deutschland. Er zeigt, wie oft und in welchem Takt Busse und Bahnen abfahren – auf dem Land wie in der Stadt.

Philipp Kosok
© Agora Verkehrswende

Philipp Kosok ist seit Oktober 2020 bei Agora Verkehrs­wende für den Bereich Öffentliche Verkehre zuständig. Sein Schwerpunkt liegt auf der raschen Leistungs­steigerung der Bus- und Bahn­infra­struktur als Rückgrat der Verkehrs­wende, der Integration neuer Mobilitäts­dienste in den bestehenden ÖPNV und die Verlagerung des Stadt-Umland-Verkehrs in den Umwelt­verbund.

ÖV-Atlas bringt Licht ins (Daten-)Dunkel

Je dunkler die Farbe auf der interaktiven Karte, desto höher ist die Fahrtendichte und desto besser das Angebot. Im jüngsten ÖV-Atlas wird neben dem ÖPNV-Angebot auch die Pkw-Dichte abgebildet. „Teil der Verkehrs­wende ist, dass wir den motorisierten Verkehr nicht nur elektrifizieren, sondern auch reduzieren, indem Menschen vermehrt Bus und Bahn nutzen“, sagt Philipp Kosok, Projekt­leiter Öffentlicher Verkehr bei Agora Verkehrs­wende.

Auffällig, jedoch wenig überraschend ist das klare Stadt-Land-Gefälle. In Metropol­regionen oder mittel­großen Städten funktioniert der ÖPNV weitgehend gut. Bus und Bahn sind eng getaktet, oft gibt es auch ein Rad­wege­netz. Die Daten des ÖV-Atlas zeigen, dass in München, Frankfurt am Main und Berlin auf einer Fläche von einem Quadrat­kilometer im Schnitt alle 54 Sekunden ein Bus oder eine Bahn abfahren. Finden in Großstädten täglich 910 Fahrten pro bebautem Quadrat­kilometer statt, sind es in den Klein­städten und auf dem Land nur noch 55 Fahrten pro Tag. Entsprechend ist das ÖPNV-Angebot dort keine attraktive Alternative zum Auto.

Um Klimaneutralität zu erreichen, braucht Deutschland deutlich mehr ÖPNV-Angebote.
Die Studie zeigt: Eng getakteter ÖPNV reduziert in der Tat das Autoaufkommen.

Sozial gerechter durch öffentlichen Nahverkehr

Die deutsche Mobilitätswende hin zu mehr öffentlichem Personen­nah­verkehr habe zudem eine soziale Komponente, betont Philipp Kosok. „Wir sind der Ansicht, dass es ein garantiertes Grund­angebot mit öffentlichem Verkehr überall in Deutschland geben sollte, ganz egal wo man wohnt.“ Niemand solle auf ein Auto angewiesen sein. Er verweist darauf, dass es neben dem Klima­schutz auch um ein sozial­politisches, gesellschaftliches Anliegen gehe. Es zahle sich für die Menschen aus, die kein eigenes Auto hätten und immobil seien: Personen mit geringem Einkommen, Schüler*innen, Menschen mit Behinderung oder Ältere. Aber auch Menschen, die für ihr soziales Netzwerk viele Hol- und Bring­dienste über­nähmen und damit die Mobilität für andere absicherten. Für sie wäre ein garantiertes Grundangebot von Bus und Bahn ein großer Gewinn.

Erste Verkehrsvorbilder aus Deutschland

Die Arbeit von Agora Verkehrswende zeigt bereits Wirkung. „Kommunalpolitiker*innen, lokale Initiativen oder Verkehrs­politiker*innen nutzen unsere Daten, um mit dem belastbaren Daten­bestand regionale Debatten zum Nahverkehr zu führen“, sagt Philipp Kosok. Mit Erfolg: Im fränkischen Schwabach beispiels­weise reagierte man auf das löchrige ÖV-Angebot mit Stadt-Taxis auf Abruf, die zum Bustarif fahren. Umfassender ist das Pilot­projekt SMILE24 an Schlei und Ostsee, das Buslinien, On-Demand-Shuttles sowie Car- und Bike­sharing zusammen­führt. Auch diese Angebote bildet der ÖV-Atlas in Daten ab. Er ist damit ein leicht zugängliches Instrument, das die Diskussion um den Ausbau des ÖV-Angebotes unterstützt.

Verkehrswende: Schweiz als Ziel

Wie die Zukunft der Mobilität aussehen kann, zeigen schon heute die ÖPNV-Angebote in Österreich, der Schweiz und Luxemburg. Hier gilt in der öffentlichen Diskussion der Grundsatz: Schiene vor Straße. Die Analysen von Agora Verkehrs­wende dokumentieren ein sehr hohes Ausbauniveau der drei Staaten: Selbst in alpinen Dörfern in der Schweiz wird regel­mäßig im Halb­stunden­takt gefahren. Luxemburg leistet sich sogar einen kosten­losen Nahverkehr. „In der Schweiz, Österreich oder Luxemburg wird über einen sehr langen Zeitraum deutlich mehr Geld in die Bahn­infra­struktur und das Angebot investiert“, stellt Philipp Kosok fest. „In Deutschland kommt diese Debatte leider nicht so richtig von der Stelle.“ Dennoch räumt er ein, dass aktuell immerhin die Bundes­mittel für den Nahverkehr erhöht würden. So könnten Bund, Länder und Kommunen gemeinsam für alle Menschen ein Grund­angebot von Mobilität sichern – und die Klima­schutz­ziele im Verkehr schneller erreichen.


Agora Verkehrswende

Agora Verkehrswende ist ein Thinktank für klima­neutrale Mobilität mit Sitz in Berlin. Im Dialog mit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivil­gesellschaft setzt sich die über­parteiliche und gemein­nützige Organisation dafür ein, die Treib­haus­gas­emissionen im Verkehrs­sektor auf null zu senken. Dafür entwickelt das Team wissenschaftlich fundierte Analysen, Strategien und Lösungs­vorschläge.
www.agora-verkehrswende.de