Ziviler Ungehorsam: Warum unsere Demokratie Wider­spruch braucht – Dr. Samira Akbarian im Gespräch

Samira Akbarian
Ziviler Ungehorsam: Warum unsere Demokratie Wider­spruch braucht – Dr. Samira Akbarian im Gespräch
Autorin: Dorothée Hübscher 08.10.2024

Was haben die Bewegungen Fridays for Future und Black Lives Matter gemeinsam? Es sind Formen zivilen Ungehorsams, die auf Schwach­stellen unseres gesellschaftlichen Zusammen­lebens aufmerksam machen. Rechts­wissenschaftlerin Dr. Samira Akbarian sieht im zivilen Ungehorsam nicht nur einen Rechts­bruch, sondern Ausdrucks­mittel einer lebendigen Demokratie. Wieso das so ist und ab wann ziviler Ungehorsam demokratie­gefährdend werden kann, erklärt sie  in ihrem neuen Buch „Recht brechen“ – und uns im Interview.

Es gibt einen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit. Wieso ist diese Diskrepanz im Zusammen­hang mit zivilem Ungehorsam relevant?

Idealerweise sollte in einer Demokratie Recht und Gerechtigkeit Hand in Hand gehen. Das ist unser Anspruch als demokratische Gesellschaft: Wir wollen eine gerechte Ordnung erreichen, in der alle ihre Freiheit und Gleichheit verwirklichen können. Dementsprechend versuchen wir auch, unsere Gesetze zu gestalten. Das bedeutet, dass einer­seits die Verfahren so gestaltet sind, dass alle daran teilhaben können. Damit die­jenigen, die dem Recht unter­worfen sind, auch darüber mitbestimmen können, was geltendes Recht ist. Diesem Anspruch werden wir jedoch nicht gerecht. In den klassischen Modellen, die zivilen Ungehorsam als Teil eines demokratischen Rechts­staates sehen, geht es darum die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit zu schließen.

Wo liegen die Chancen des zivilen Ungehorsams?

Im Buch unterscheide ich zwischen drei verschiedene Funktionen des zivilen Ungehorsams: einer rechts­staatlichen, einer radikal­demokratischen und einer ethischen.

Dr. Samira Akbarian ist Rechts­wissenschaftlerin am Lehr­stuhl für Öffentliches Recht und Rechts­philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschung zum Thema ziviler Ungehorsam wurde mit dem Deutschen Studien­preis der Körber-Stiftung, dem Merkur-Preis für heraus­ragende Dissertationen sowie dem Werner-Pünder-Preis ausgezeichnet.

Auf der ersten Ebene stimmen zivil Ungehorsame grundsätzlich mit der Ordnung des demokratischen Rechts­staates überein, soweit sie den Anspruch erhebt, gerecht zu sein. Hier erfüllt der Ungehorsam die Funktion, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und zu fragen, ob sie ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird. Der Ungehorsam ist auf Integration gerichtet. Das wird am Beispiel der amerikanischen Bürger­rechts­bewegung deutlich: Dass Rassen­trennung ungerecht ist, ist offensichtlich. Durch ihren gewaltlosen Ungehorsam hat die Bewegung sich aber nicht gegen die demokratische Gemeinschaft gestellt, sondern versucht, sie davon zu überzeugen, dass diese Ungerechtigkeit behoben werden muss. Begleitet wurde der Ungehorsam von einer öffentlichen Diskussion, von strategisch geführten Gerichts­verfahren und von legalen Versammlungen. Ziel war es, die Anliegen dadurch umzusetzen oder eben zu integrieren.

Radikaldemokratische Ansätze setzen grund­sätzlicher an und stellen infrage, ob angesichts der Ausschlüsse und strukturellen Ungerechtigkeit wirklich nur an einzelnen Stell­schrauben gedreht werden muss, um Demokratie und Gerechtigkeit zu erreichen. Auch wenn formal gleiche Rechte erreicht werden können, heißt es noch lange nicht, dass alle Rechts­unter­worfenen auch an der Rechts­ordnung mitwirken können bzw. dass alle Stimmen wirklich gleich viel zählen. Das drückt beispiels­weise der Satz „Black Lives Matter“ aus. Ziviler Ungehorsam kann durch Störung der öffentlichen Ordnung auf Repräsentations- und Demokratie­defizite ganz grundsätzlicher Art aufmerksam machen und „Selbst­verständlichkeiten“ hinter­fragen. Das hilft einer Demokratie, die Fähigkeit zu bewahren, die sie am dringendsten braucht, nämlich sich immer wieder erneuern zu können und sich nicht in ihrem Kern so zu verfestigen, dass sie fundamentalistisch wird.

Zuletzt sind wir nicht nur Teil einer Rechtsgemeinschaft, sondern auch Individuen, die eigenen normativen Ansprüchen genügen müssen, d.h. die ein eigenes Gespür für Recht und Unrecht haben. Wenn es zum Konflikt zwischen meinen eigenen Über­zeugungen, meinem inneren Gesetz und dem äußeren Gesetz des Staates kommt, kann der zivile Ungehorsam helfen, dem eigenen ethischen Anspruch gerecht zu werden. Der zivile Ungehorsam gibt so eine Möglichkeit auch innerhalb einer Gemeinschaft dem eigenen Werte­system folgen zu können.

In einer Demokratie kann alles auch immer anders sein.

Samira Akbarian

Sie schreiben in ihrem Buch „In einer Demokratie kann alles auch immer anders sein“. Wieso ist es für eine Demokratie wichtig, keine absoluten Wahrheiten zu haben?

Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde hat einmal das Paradoxon beschrieben, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraus­setzungen lebt, die er selbst nicht gewähr­leisten kann. Diese Einsicht teile ich und möchte erklären warum:  In einem Staat, der nicht freiheitlich säkularisiert ist, gibt es immer etwas, das im Zentrum der Macht steht, sei es Gott, ein Herrscher oder Vernunft. Im freiheitlich säkularisierten Staat gibt es diese Vorstellung der absoluten Wahrheit nicht mehr. Dieses fehlende Fundament ist es, was Demokratie ausmacht. Die Leer­stelle im Zentrum der Macht kann ich als Bürger*in mit­gestalten, wodurch immer etwas Neues entstehen kann. Der zivile Ungehorsam spielt eine wichtige Rolle dabei aufzupassen, dass sich nichts im Fundament festsetzt und eine absolute Wahrheit für sich beansprucht – denn eine solche kann es in einer Demokratie nicht geben.

Sie betrachten zivilen Ungehorsam als eine Form der Verfassungs­interpretation. Wie genau kann ziviler Ungehorsam helfen, unsere Verfassung zu verbessern?

Ich denke, dass der zivile Ungehorsam eine Arbeit an der Ordnung ist. Am anschaulisten lässt sich das am Beispiel der Klima­aktivist*innen erklären, die sich auf Artikel 20a Grundgesetz berufen, einem Artikel, der die natürlichen Lebens­grund­lagen, also auch das Klima, schützt. Dieser Artikel wurde durch das Bundes­verfassungs­gericht in einer wichtigen Entscheidung aufgewertet – darauf nehmen die Aktivist*innen immer wieder Bezug und geben konkrete Vorschläge dafür, wie wir sie zu interpretieren haben: zum Beispiel, dass wir das Klima­abkommen einhalten müssen, und das 1,5 Grad Ziel. Das ist eine Interpretation einer Verfassung, nämlich des Grund­gesetzes, Artikel 20a. Es geht aber nicht nur um die Auslegung einer konkreten Verfassung, sondern noch darüber hinaus: Wenn ich zum Beispiel aus Gewissens­gründen den Kriegs­dienst verweigere, lege ich damit die Verfassung aus und sage, die Gewissens­freiheit innerhalb dieser Ordnung soll mir ermöglichen, dass ich meinem Gewissen folgen und bestimmte Dinge verweigern kann. Auch das Infrage­stellen bestimmter Dinge, die wir als gegeben betrachten, gehört dazu. Die aktuelle Rechtsprechung sieht in einer Sitzblockade beispielsweise eine Nötigung und Gewalt­aus­übung. Diese gefestigten Auslegungen, unser Verständnis von Gewalt und Versammlungen stellen Aktivist*innen implizit eine Gegen­auf­fassung entgegen, wenn sie Sitz­blockaden ausüben und diese als Versammlungen und gewaltlosen Akt des Widerstands bezeichnen.

Als Menschen sind wir alle verletzlich und haben Verantwortung füreinander.

Samira Akbarian

Das Cover ihres Buches zeigt ein ikonisches Foto aus dem Jahr 2016: die US-amerikanische Kranken­schwester Iesha Evans steht in einem leichten Sommer­kleid vor einer Wand bewaffneter Polizisten. Sie protestierte gegen rassistische Polizei­gewalt und soll nun verhaftet werden. Was meint der Begriff „Gewalt der Verletzlichkeit“? Und wieso ist die aktuelle rechtliche Einordnung ihrer Meinung nach unangemessen?

Dieser Begriff nimmt Bezug auf die deutsche Recht­sprechung zur Sitz­blockade: Sie wird als eine Form der Nötigung gehand­habt, d.h. das Sitzen auf der Straße wird als Gewalt verstanden. Es gibt eine lange Rechts­prechungs­linie, die sich mit diesem Gewalt­begriff beschäftigt hat. Aktuell sieht man den Tatbestand der Gewalt ab der zweiten Reihe Autos erfüllt, durch die ein Stau erzeugt wird. Die frühe Recht­sprechung sah schon ab der ersten Reihe Autos eine Form von Gewalt, nämlich psychische Gewalt. Die Sitzenden bilden ein Hindernis, dass nicht physisch, aber psychisch unwider­stehlich ist, denn ich kann sie nicht einfach überfahren – mein Gewissen hindert mich daran. Was die Gerichte aber damit eigentlich als Gewalt definieren, ist der Einsatz der eigenen Verletzlichkeit. Indem die Sitzenden ihren eigenen Körper, ihre eigene Verletzlichkeit einsetzen, lösen sie den Anspruch aus: „Du kannst mich nicht einfach über­fahren!“ Damit bringen sie uns in eine Verantwortungs­lage, die durch etwas Besonderes gekennzeichnet ist: unserer Gleichheit als Menschen. Als Menschen sind wir alle verletzlich und haben Verantwortung – uns gegenüber und vielleicht auch gegen­über der Welt, in der wir leben.

Einerseits wird ein solches Verhalten also als Gewalt gedeutet, anderer­seits wird Verletzlichkeit als Schwäche gedeutet. Was wir jedoch im Aktivismus sehen können, ist, dass der Einsatz der Verletzlichkeit eigentlich eine Form von Gewalt­losig­keit ist, die extrem kraft­voll ist. Die Philosophin Judith Butler spricht in diesem Zusammen­hang von der „Force of Non-Violence“, also der Kraft oder Macht der Gewalt­losig­keit. Das ist es, was meiner Meinung nach Aktivist*innen bei Sitz­blockaden nutzen. Wir sehen es auch auf dem Cover des Buches: Da ist eine Frau, vollkommen unbewaffnet in einem leichten Sommerkleid – die nichts, als ihren Körper hat – und einer Hundertschaft gegen­über­steht. Die Gewalt­ausübung geht hier, wie man deutlich sieht, nicht von der Demonstrierenden aus. Sie nutzt die Aggressivität, die ihr entgegen­kommt, und schafft durch ihre eigene Verletzlichkeit eine Neuordnung der Machtverhältnisse – das ist die Kraft der Gewaltlosigkeit, die fälschlicher­weise in der deutschen Recht­sprechung als Gewalt gedeutet wird.

Wie lässt sich erkennen, ob ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist oder ob er der Demokratie schadet?

Das bringt uns zurück zu meiner These, dass wir zivilen Ungehorsam als Verfassungs­interpretation deuten können bzw. sollten. Hier gibt es zwei Seiten: die Seite der Inter­pretation und die der Verfassung. Die Inter­pretation besagt, dass wir die Ordnung verändern können, was etwas Gutes in einer Demokratie ist. Gleich­zeitig birgt diese Fundament­losigkeit extreme Risiken, nämlich, dass ausgerechnet Feinde der Demokratie diese Stelle der Macht besetzen und behaupten, dass das, was sie tun, demokratisch sei. Dieses Risiko versuche ich ein­zu­fangen mit der zweiten Seite – der Verfassung, die einen normativen Rahmen absteckt, was noch als Interpretation in dem demokratischen Rechts­staat zählen kann und was nicht. Und dieser Rahmen ist Freiheit und Gleichheit. Das umfasst zum einen die gegen­seitige Verantwortung füreinander, die sich aus unserer Verletzlichkeit ergibt, zum anderen den Gedanken eines Rechts auf Rechte. Das bedeutet, dass wir alle Teil einer politischen Gemeinschaft sein können müssen, in der wir unsere Freiheit verwirklichen können. Indem ich zivilen Ungehorsam ausübe, nehme ich dieses Recht für mich in Anspruch und schaffe dadurch im Ideal­fall auch eine Form von Freiheit und Gleichheit.

Wie kann verhindert werden, dass extremistische Gruppen den Begriff des zivilen Ungehorsams für ihre Zwecke miss­brauchen?

Zunächst einmal ist es wichtig, das Kind nicht mit dem Bade aus­zu­schütten: Wir sollten nicht jede Form von zivilem Ungehorsam verbieten, weil es Menschen gibt, die ihn missbrauchen und ein falsches Verständnis von zivil haben. Deswegen können wir Kriterien entwickeln, welche Interpretation der Verfassung legitim ist und welche nicht mit Demokratie und Rechts­staat vereinbar sind. Wir müssen uns dabei immer den Einzel­fall anschauen und als Maßstäbe die oben skizzierten Maß­stäbe von Freiheit und Gleich­heit zu Grunde legen.

Nehmen wir zum Beispiel die Bauern­proteste. Natürlich ist es absolut legitim für die Verbesserung seiner Lebens­situation zu protestieren oder bestimmte Interessen zu vertreten. Während beim Beispiel der Sitz­blockaden Menschen ihre eigene Verletzlichkeit einsetzen, wurden bei den Bauern­protesten aber Traktoren eingesetzt. So wurde Raum eingenommen, den die Protestierenden mit ihrem Körper nicht hätten einnehmen können. Es wurde ein größeres, mächtigeres – wenn man so will, bedrohlicheres Fahrzeug in den Mittel­punkt gestellt, um sich den anderen, kleineren Autos in den Weg zu stellen. Das widerspricht dem Gedanken der gegenseitigen Verantwortung, die sich aus unserer Verletzlichkeit ergibt.

Wie sollte eine demokratische Gesellschaft auf Aktionen zivilen Ungehorsams reagieren, die von breiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt werden?

Natürlich lebt der zivile Ungehorsam auch ein Stück weit davon, dass er ungehorsam ist. Daher müssen wir jetzt nicht alles legalisieren. Die rechtliche Auseinander­setzung gehört dazu – diese sollten wir jedoch nicht noch weiter verschärfen. Manche Gesetzes­normen müssten wir anders interpretieren. Zum Beispiel bin in der Meinung, dass der Gewalt­begriff, wie er im Zusammen­hang mit zivilem Ungehorsam verwendet wird, nicht richtig ist. Wir sollten die Tatsache, dass sich jemand politisch engagiert, sich für die Gemeinschaft einsetzt, nicht straf­verschärfend gelten lassen. Ich verstehe, dass bestimmte Protest­aktionen nerven. Als Juristin kann ich nicht beurteilen wie politisch-strategisch klug diese Aktionen sind. Aber ziviler Ungehorsam ist nun einmal unbequem, er will unbequem sein, es geht ihm darum, auf dramatische Art und Weise auf bestimmte Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Es geht darum, die Ordnung durch­einander­zu­bringen, es geht darum wachzurütteln.

Ziviler Ungehorsam stört; wollen wir aber eine reife Demokratie, dann müssen wir uns mit dem Ungehorsam und vor allem mit den dahinter­stehenden Anliegen auseinander­setzen, statt den Konflikt zu unter­drücken. Und das bedeutet auch in den Spiegel hineinzusehen, den uns Aktionen zivilen Ungehorsams vorhalten.

Edition Mercator

Die Edition Mercator ist eine von der Stiftung Mercator geförderte Sach­buch­reihe, die im C.H. Beck Verlag erscheint. In pointierter Form eröffnen renommierte Autor*innen und Expert*innen neue Perspektiven auf gesellschaftlich-relevante Themen.

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